Zustimmung und ein wohlwollendes Nicken folgen schnell auf die Forderung, interkulturelle und -religiöse Öffnung in der Jugendarbeit als zentrale Aufgabe zu etablieren. Was damit bei vertiefter Auseinandersetzung an Zusammenhängen, selbstkritischer Reflexion und erforderlichem Einsatz zusammenhängt, hat die Fachtagung vom 6. bis 7. Februar 2023 zu Tage gebracht.
Pro Tag gab es 2 Fachvorträge und unterschiedliche Workshops zur Vertiefung. Hinzu kamen sogenannte Marktplätze, in denen verschiedene Organisationen ihre Arbeit zum Thema präsentierten. Ein unverbindliches Herumschlendern, Broschüren betrachten und informative Gespräche zeichneten diese Marktplätze aus. Das Abendprogramm war eine Lesung von Ali Can zu seinem Buch «Mehr als eine Heimat – wie ich Deutschland neu definiere». Die Lesung, die immer wieder mit eindrücklichen Erzählungen aus dem Leben des Autors unterbrochen wurde, veranschaulichte die Realität von Ausgrenzung, Fremdenhass und skurrilen Behauptungen, die Menschen mit Migrationshintergrund treffen.
Interkulturell und interreligiös – was meint dieses inter?
Der einführende Vortrag von Prof. Dr. Loiero hallte über die beiden Tage immer wieder nach. Er bot mit seiner Definition des inter einen Referenzpunkt, auf den die folgenden Fachreferate und Workshops reflektiert und zugeordnet werden konnten. Loiero versteht dieses inter als «Raum des Zwischen», der Subjekte, Kulturen und Religionen im Wissen, Verständnis, Respekt und in der Anerkennung ihrer Differenzen zusammenkommen lässt. Und dies nicht um sich gegenseitig die Differenzen vorzuhalten, bis die Macht des Stärkeren siegt und somit Differenzen vermeintlich ausgeräumt und überwunden werden. Vielmehr geht es darum, einen «Raum im Zwischen» als herrschaftsfreien Ermöglichungsraum von etwas Neuem zu verstehen, das von allen – in und trotz ihrer Differenzen – gemeinsam getragen und gestaltet wird, auch wenn dies nur für eine bestimmte Zeit gilt. Damit lassen für Loiero «Räume des Zwischen» das einholen, was Partizipation als Teilhabe und Teilnahme meint: Was alle angeht, wird auch von allen getragen und gestaltet. «Räume des Zwischen» wollen dabei keine Uniformität im Handeln und Denken konstruieren, sondern sie zielen auf Horizontverschmelzungen, die differenziertes Denken und Handeln auch weiterhin zulassen. Das Potential der «Räume des Zwischen» liegt für die Gesellschaft, für die Religionen wie für die Kirche darin, dass sich niemand ausgegrenzt, kolonialisiert oder als Verlierer:in fühlen muss, weil jede:r erfährt, dass sie/er das Recht und die Chance auf ihr/sein Anderssein hat. Mit dieser Selbst- und Welterfahrung des Anderssein verändern «Räume des Zwischen» nicht nur Individuen, sondern ganze Systeme/Institutionen und Wirklichkeiten.
Prof. Dr. Küpper hielt den Zuhörenden einen ungeschönten Spiegel vor Augen, wie von Rassismus und Abwertung geprägt unsere Kultur und Sprache ist. Ihre Ausführungen gingen an Schmerzgrenzen des eigenen Schuldbewusstseins und sensibilisierten gleichzeitig gegenüber den Mauern, die ein inter nach Loiero verhindern. Wie stark wir kulturell und religiös von einer abgrenzenden und abwertenden Sichtweise gegenüber Fremdem geprägt sind, zeigte auch der Reflex einer Teilnehmerin, die sich vehement von den Vorwürfen Küppers distanzierte, später jedoch eingestand, selbst auch gegen rassistische und abwertende Prägungen in sich vorgehen zu müssen.
Abgrenzung und Abwertung dienen der Identitätsfindung – aber Vorsicht!
Prof. Dr. Freise zeigte in seinem Vortrag, dass gerade in der Lebensphase der Jugend, mit ihrer Entwicklungsaufgabe der Identitätsfindung, Abgrenzungen und damit einhergehend auch Abwertungen, natürliche Prozesse der Selbstfindung sind. Die Gefahren dabei sind Pauschalisierungen und die Entwicklung von Feindbilder. Diese treffen die Realität bei weitem nicht, sondern kreieren Stereotypen, die primär das eigene Selbstbild polieren.
Auch hier dient der «Raum des Zwischen» als heilvolle Erfahrung, die gegen die negativen Auswirkungen der Identitätsbildung durch Abgrenzung und Abwertung entstehen. Begegnungen zwischen Jugendlichen unterschiedlicher Kulturen und Religionen wirken jedoch nicht nur präventiv gegenüber Diskriminierung. Sie fördert die Identitätsbildung, da aus diesem inter wichtige Einsichten für das Selbstbild gewonnen werden.
Prof. Dr. Heimbach-Steins machte in ihrem Vortrag deutlich, wie Andersheit zugeschrieben wird durch eigene Konstruktionen. Sie bot auch gleich das Rezept dagegen: Durch Begegnung und Einlassen auf den anderen die eigene Konstruktion zu dekonstruieren. Anerkennung findet immer in einem Machtgefälle statt. Dieses gilt es zu überwinden. Die Anerkennung des anderen ist daher eine komplexe Aufgabe mit einem hohen Anspruch. Mit der Frage: «Bin ich fähig, um jemanden mir unbekannt oder gar meinen «Feind», zu trauern?», veranschaulichte sie die herausfordernde Tiefe echter Teilhabe. Diese kann nur durch Anerkennung des anderen als Gegenübers stattfinden, ohne Bewertungskriterien. Fehlende Anerkennung macht den anderen für die Teilhabe tot. Denn damit kann die von Loiero genannte Aussage «ohne Dich fehlt etwas wesentliches» nicht ausgesprochen werden. Sie spiegelt jedoch den Gehalt echter Teilhabe.
Wie geht interkulturelle und interreligiöse Öffnung in der Jugendarbeit?
Die Hälfte des Erkenntnisgewinns einer Fachtagung generiert sich meist in den informellen Gesprächen und im Austausch in den Workshops. Dabei ging es sehr oft um das Verhältnis der Majoritätskultur und -religion mit den Minoritätskulturen und -religionen. Selbst die Auswahl der Referent:innen gab Anlass für Diskussionen, waren es doch, bis auf die Lesung von Ali Can, alles Professor:innen aus dem christlichen Kontext oder Angehörige der Deutschen Majorität. Gerne hätte ich die islamische Theologin, die ich kennen lerne durfte, in einem Referat gehört und dabei ihre Sichtweise auf die Bedingungen für eine gelingende Interreligiosität gehört. Oder der Ehrenamtlichen mit hinduistischem Glauben über kulturelle Gräben zugehört. Dies ist kein Vorwurf an die Organisator:innen der Fachtagung, sondern eine Feststellung, die auf der gewachsenen Sensibilität gegenüber interkultureller und -religiöser Öffnung in der Jugendarbeit resultiert.
Die Begegnung der Kulturen und Religionen im inter erfordert ein Gleichgewicht, dass zuerst hergestellt werden muss. Dies liegt in der Verantwortung der jeweiligen Majorität und liegt weit entfernt von einem «erbarmenden sich Niederlassen auf Minderheiten». Öffnung bedeutet hier zuerst einmal Stärkung des Gegenübers. Nur wer zu ausreichenden Informationen, qualitativen Erfahrungen und vertiefenden Auseinandersetzungen mit seiner eigenen Kultur oder Religion kommt, kann sich auf Augenhöhe in den „Raum des Zwischen» begegnen und mit der Majorität etwas Neues kreieren. Es bedarf folglich Räume und Mittel für die Minoritäten, damit diese ihr «Anderssein» von der erdrückenden Abhängigkeit der Majorität befreien können. Anerkennung bedeutet nicht: «Ich registriere, dass Du auch da bist, und weise Dir als Ort das Getto zu.» Anerkennung ist die Erkenntnis, dass ich am Fremden wachsen kann und das Anderssein ein Gewinn für alle ist.
Junge Menschen in der pluralen Gesellschaft
Interkulturelle und -religiöse Öffnung in der Jugendarbeit ist zwingend erforderlich. Die Lebensrealitäten junger Menschen befinden sich in einer Gesellschaft, die kulturell und religiös plural ist. Beispiele fehlender Kohäsion der Gesellschaft lassen sich in den Medien täglich lesen. Aber auch Probleme und Herausforderungen, die unsere Mitwelt betreffen, können nur gemeinsam gelöst werden. «Unsere Herausforderungen sind so gross, dass ich es nicht verstehe, warum wir es nicht schaffen, Grenzen zu überwinden und gemeinsam konstruktive Lösungen zu schaffen.» Die Aussage eines jungen Ehrenamtlichen mit Migrationshintergrund macht deutlich, dass wir ALLE benötigen, um unser Miteinander und den Planeten in eine positive Zukunft zu führen. Die Jugendarbeit ist angehalten, zusammen mit jungen Menschen an der Grundlage für ein konstruktives inter zu arbeiten.
Die in der Schweiz öffentlich-rechtlich anerkannten Religionsgemeinschaften müssen sich aus der Schockstarre ihres Bedeutungsverlusts befreien. Anstatt «Retten wir unsere letzten Schafe» und dem damit einhergehenden festkrallen am Majoritätsstatus muss das Evangeliums gemässe Ausgiessen kommen. «Schafe vermehren sich nicht durch Hirten, sondern durch Schafe» (Klaus Douglass). Diese Aussage gilt in analoger Weise auch für die inter-kulturelle und -religiöse Öffnung. Die Stärke des anderen trägt dazu bei, das effektive Lösungen zustande kommen und sich die «Herde vermehrt», die auf eine gemeinsam verantwortete, gestaltete und deswegen lebenswerte Welt hinarbeitet, weil jede:r seinen Platz im gemeinsamen Anderssein findet.
Viktor Diethelm
Kompetenzzentrum Jugend der römisch-katholischen Kirche der Deutschschweiz